
Es ist eine merkwürdige Ironie der deutschen Befindlichkeit, dass ausgerechnet jene gesellschaftliche Schicht, die sich einst mit revolutionärem Gestus gegen die Spießigkeit ihrer Eltern auflehnte, heute selbst zur spießbürgerlichsten aller Klassen mutiert ist. Was wir gegenwärtig in Deutschland erleben, ist nicht weniger als die Entstehung eines neuen Bürgertums, das sich in den Gewändern der Progressivität kleidet, dabei aber alle Charakteristika jener kleingeistigen Mentalität aufweist, die es zu überwinden vorgibt. Der Wokismus, ursprünglich als emanzipatorische Bewegung gedacht, ist zum ideologischen Überbau einer neuen Spießigkeit geworden, die ihre moralische Selbstgerechtigkeit mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Deutungshoheit verbindet.
Die neue deutsche Spießbürgerlichkeit zeigt sich nicht mehr im akkurat gestutzten Vorgarten oder der pünktlichen Zahlung der Vereinsbeiträge, sondern in der obsessiven Befolgung einer komplexen Etikette der politischen Korrektheit. Wo einst die Gardine gezuckt wurde, wenn der Nachbar seinen Rasen nicht ordnungsgemäß mähte, wird heute das soziale Umfeld nach Verstößen gegen die ungeschriebenen Gesetze der Wokeness durchsucht. Der Spießbürger von gestern sorgte sich um den guten Ruf in der Nachbarschaft, der von heute um seine moralische Reputation im digitalen Raum. Die Mittel haben sich gewandelt, die Mentalität ist dieselbe geblieben.
Diese neue Spießigkeit manifestiert sich zunächst in einer außerordentlichen Regelgläubigkeit. Während der traditionelle Spießbürger peinlich darauf bedacht war, die gesellschaftlichen Konventionen einzuhalten, befolgt sein wokes Pendant mit religiöser Inbrunst die Dogmen der Identitätspolitik. Jede Äußerung wird auf ihre ideologische Korrektheit überprüft, jede Geste nach ihrer symbolischen Bedeutung abgeklopft. Es herrscht ein Klima permanenter Selbstzensur, in dem die spontane Äußerung durch die kalkulierte Botschaft ersetzt wird. Man spricht nicht mehr, man performt.
Die Sprache selbst wird dabei zum Schlachtfeld der neuen Spießigkeit. Mit derselben Pedanterie, mit der einst über die korrekte Anrede des Herrn Oberstudienrats diskutiert wurde, werden heute Formulierungen seziert, die möglicherweise diskriminierende Untertöne enthalten könnten. Das Gendern wird zur sprachlichen Zwangsjacke, die jeden Satz in ein Minenfeld verwandelt. Wer nicht korrekt gendert, outet sich als rückständig, wer zu aufdringlich gendert, als übertrieben. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan der political correctness, bei dem jeder Fehltritt soziale Ächtung bedeuten kann.
Besonders perfide wird diese neue Form der Spießigkeit durch ihren totalitären Anspruch. Während sich die alte Bürgerlichkeit zumindest theoretisch auf den privaten Bereich beschränkte, erhebt die woke Ideologie den Anspruch, alle Lebensbereiche zu durchdringen. Das Private wird politisch erklärt, die persönliche Meinung zur gesellschaftlichen Stellungnahme stilisiert. Neutralität gilt als Komplizenschaft, Zurückhaltung als Privilegienblindheit. Wer sich nicht explizit positioniert, wird automatisch dem reaktionären Lager zugerechnet.
Diese Totalisierung zeigt sich besonders deutlich in der Behandlung abweichender Meinungen. Der neue deutsche Spießbürger kennt keinen Widerspruch, er kennt nur falsche und richtige Positionen. Diskurs wird durch Diskurspolizei ersetzt, Argument durch Gesinnungsprüfung. Wer anderer Meinung ist, wird nicht widerlegt, sondern pathologisiert. Er leidet unter internalisierter Diskriminierung, ist Opfer falschen Bewusstseins oder schlicht nicht genügend sensibilisiert. Die Möglichkeit, dass vernünftige Menschen zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen können, wird kategorisch ausgeschlossen.
Dabei bedient sich diese neue Spießigkeit geschickt der Semantik der Aufklärung. Ihre Zensur nennt sie Sensibilisierung, ihre Intoleranz Antidiskriminierung, ihre Bevormundung Bildung. Die Sprache wird zur Tarnung benutzt, hinter der sich die altbekannten autoritären Impulse verbergen. Es ist dieselbe Mechanik, mit der einst die christliche Moral ihre repressiven Tendenzen hinter dem Verweis auf das Seelenheil versteckte. Nur sind heute nicht mehr die Sünde und die Verdammnis die Drohkulisse, sondern Rassismus und Diskriminierung die Gespenster, mit denen Konformität erzwungen wird.
Die soziologische Basis dieser neuen Spießigkeit findet sich in den urbanen Mittelschichten, insbesondere in jenen Berufsgruppen, die vom Diskurs leben. Journalisten, Akademiker, Kulturschaffende, Sozialarbeiter, Verwaltungsangestellte im öffentlichen Dienst – sie alle haben ein existenzielles Interesse an der Aufrechterhaltung eines komplexen Regelwerks, das ihre Expertise als Interpreten und Vollstrecker der korrekten Gesinnung unverzichtbar macht. Je komplizierter die Regeln der political correctness werden, desto wichtiger wird ihre Rolle als Hüter der ideologischen Reinheit.
Es ist kein Zufall, dass diese Schicht gleichzeitig die wirtschaftlichen Nutznießer der Globalisierung ist. Ihre Jobs sind nicht durch Automatisierung oder Verlagerung ins Ausland bedroht, im Gegenteil: Die Internationalisierung schafft neue Märkte für ihre Dienstleistungen. Sie können es sich leisten, kosmopolitisch zu denken, weil sie von den Verwerfungen der Globalisierung verschont bleiben. Ihre moralische Überlegenheit speist sich aus ihrer ökonomischen Privilegiertheit, die sie jedoch durch die Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit verschleiern.
Diese Verschleierung ist notwendig, weil die neue Spießbürgerlichkeit einem fundamentalen Widerspruch unterliegt. Sie predigt Gleichheit, lebt aber von Ungleichheit. Sie fordert Diversität, praktiziert aber rigorose Konformität. Sie beklagt Diskriminierung, diskriminiert aber selbst nach ideologischen Kriterien. Diese Widersprüche werden durch eine komplexe Rhetorik der Selbstrechtfertigung aufgelöst, die jeden Vorwurf der Heuchelei als Beweis für die Notwendigkeit noch größerer Wachsamkeit interpretiert.
Der neue deutsche Spießbürger hat aus der Geschichte gelernt – allerdings die falsche Lektion. Statt die Mechanismen zu durchschauen, die zu autoritären Strukturen führen, hat er sich zu ihrem Vollstrecker gemacht. Er glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen, weil er die richtige Gesinnung hat. Dass Gesinnung ohne Reflexion zur Ideologie wird und Ideologie ohne Opposition zum Dogma, diese Erkenntnis ist ihm fremd. Er ist der festen Überzeugung, dass die Geschichte ihm recht geben wird, weil er auf der Seite der Unterdrückten steht. Dabei übersieht er, dass er selbst zum Unterdrücker geworden ist.
Die Zerstörung der Familienstrukturen ist eines der deutlichsten Symptome dieser neuen Spießbürgerlichkeit. Während die traditionelle Familie als Hort der Reaktion gebrandmarkt wird, propagiert die woke Ideologie alternative Familienmodelle als progressiv und befreiend. Das klingt zunächst nach Pluralismus und Toleranz, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung jedoch als subtile Form der sozialen Kontrolle.
Die Familie, verstanden als generationsübergreifende Solidargemeinschaft, ist der natürliche Feind jeder totalitären Ideologie. Sie bietet Schutz vor staatlicher und gesellschaftlicher Willkür, sie vermittelt Werte jenseits der jeweils herrschenden Meinung, sie schafft Loyalitäten, die sich nicht durch politische Konjunkturen erschüttern lassen. Der neue deutsche Spießbürger kann diese Autonomie nicht dulden. Für ihn ist die Familie ein Ort der Reproduktion falschen Bewusstseins, ein Hindernis auf dem Weg zur ideologischen Durchdringung der Gesellschaft.
Deshalb wird die Familie systematisch dekonstruiert. Ihre natürliche Entstehung wird als soziales Konstrukt delegitimiert, ihre Funktionen werden auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen übertragen, ihre Mitglieder werden gegeneinander ausgespielt. Eltern werden zu Verdächtigen erklärt, die ihre Kinder möglicherweise mit diskriminierenden Einstellungen infizieren. Kinder werden ermutigt, ihre Eltern zu belehren und zu korrigieren. Die natürliche Hierarchie zwischen den Generationen wird durch eine ideologische Hierarchie ersetzt, in der die vermeintlich aufgeklärteren Nachkommen über ihre rückständigen Vorfahren zu Gericht sitzen.
Diese Umkehrung der Generationenbeziehung ist nicht zufällig, sondern folgt der Logik jeder revolutionären Bewegung, die die Vergangenheit auslöschen will. Die Familie ist das Gedächtnis der Gesellschaft, sie bewahrt Traditionen und Erfahrungen, die der neuen Ordnung im Weg stehen. Indem die Kinder gegen ihre Eltern mobilisiert werden, wird dieses Gedächtnis systematisch zerstört. Die Kontinuität der Generationen weicht der Diskontinuität der ideologischen Brüche.
Besonders perfide wird diese Strategie durch ihre moralische Überhöhung. Die Zerstörung der Familie wird als Befreiung von patriarchalen Strukturen gefeiert, die Entfremdung zwischen den Generationen als Emanzipation von autoritären Erziehungsmethoden bejubelt. Wer dagegen protestiert, wird als Verteidiger überkommener Machtstrukturen gebrandmarkt. Die Familie wird nicht offen angegriffen, sie wird systematisch unterminiert.

Die Methoden dieser Unterminierung sind vielfältig und subtil. Die Geschlechterrollen werden in Frage gestellt, nicht um größere Freiheit zu schaffen, sondern um Verwirrung zu stiften. Kinder werden ermutigt, ihre Identität zu hinterfragen, bevor sie überhaupt eine entwickelt haben. Die sexuelle Aufklärung wird zur ideologischen Indoktrination umfunktioniert, die nicht Wissen vermittelt, sondern Normen zersetzt.
Dabei wird geschickt mit der Angst der Eltern gespielt, ihre Kinder könnten durch falsche Erziehung Schaden nehmen. Die Verunsicherung wird systematisch geschürt, um die natürliche Autorität der Eltern zu untergraben. Professionelle Experten übernehmen die Deutungshoheit über das, was für Kinder richtig und falsch ist. Die Eltern werden zu Laien degradiert, die auf die Anleitung von Spezialisten angewiesen sind.
Diese Expertokratie ist ein weiteres Charakteristikum der neuen deutschen Spießbürgerlichkeit. Für jedes Problem gibt es den entsprechenden Experten, für jede Lebenslage die passende Beratung. Die Selbständigkeit wird durch Betreuung ersetzt, die Eigenverantwortung durch professionelle Begleitung. Das Leben wird zu einem Prozess permanenter Supervision, in dem jede spontane Regung durch reflektierte Reaktion ersetzt wird.
Der Wokismus ist der Beweis dafür, dass Demokratie mehr ist als Institutionen. Sie ist eine Geisteshaltung, eine Lebensform, eine Kultur des Respekts vor der Verschiedenheit. Wo diese Kultur fehlt, können die besten Verfassungen nichts ausrichten. Wo sie zerstört wird, ist die Demokratie in Gefahr.
Und sie wird zerstört, systematisch und planmäßig. Nicht durch offene Feinde der Demokratie, sondern durch ihre vermeintlichen Verteidiger. Nicht durch Antidemokraten, sondern durch Hyperdemokraten, die so pseudodemokratisch sind, dass sie antidemokratisch werden. Nicht durch Faschisten, sondern durch Antifaschisten, die faschistische Methoden anwenden, um den Faschismus zu bekämpfen.
Der Teufelskreis schließt sich dabei auf perfekte Weise. Je mehr die neue deutsche Spießbürgerlichkeit ihre Kontrolle ausweitet, desto mehr Widerstand erzeugt sie. Je mehr Widerstand sie erzeugt, desto mehr rechtfertigt sie weitere Kontrolle. Je mehr sie kontrolliert, desto paranoider wird sie. Je paranoider sie wird, desto totalitärer agiert sie.
Am Ende steht eine Gesellschaft, die sich selbst zerstört im Versuch, sich selbst zu perfektionieren. Eine Kultur, die im Namen der Toleranz intolerant geworden ist. Ein System, das im Namen der Gerechtigkeit ungerecht handelt. Ein Bürgertum, das im Namen des Fortschritts rückschrittlich geworden ist.
Die Tragödie liegt dabei nicht nur in den gesellschaftlichen Verwerfungen, die diese Entwicklung mit sich bringt. Sie liegt auch in den persönlichen Kosten für jene, die sie vorantreiben. Der neue deutsche Spießbürger mag sich moralisch überlegen fühlen, aber er ist menschlich verarmt. Er hat seine Spontaneität verloren, seine Unbefangenheit eingebüßt, seine Lebensfreude erstickt.
Er lebt in einer Welt permanenter Anspannung, in der jede Äußerung überdacht, jede Geste kalkuliert, jede Emotion kontrolliert werden muss. Er kann nicht mehr lachen, ohne zu überlegen, ob es verletzend sein könnte. Er kann nicht mehr lieben, ohne zu analysieren, ob es Machtstrukturen reproduziert. Er kann nicht mehr leben, ohne ständig zu reflektieren, ob es politisch korrekt ist.
Diese Existenz ist nicht nur unfrei, sie ist auch unglücklich. Der permanente Kampf gegen die eigene Natur, die ständige Überwachung der eigenen Impulse, die endlose Perfektionierung der eigenen Haltung – all das macht aus dem Leben eine Aufgabe, die niemals gelöst werden kann. Der woke Mensch ist ein Sisyphos der Moral, der immer wieder denselben Stein den Berg hinaufrollt, nur um zu sehen, wie er wieder hinunterfällt.
Dabei könnte es so einfach sein. Leben und leben lassen. Toleranz statt Kontrolle. Vertrauen statt Verdacht. Gelassenheit statt Aufgeregtheit. Humor statt Verbissenheit. Die Weisheit des gewöhnlichen Lebens gegen die Hybris der ideologischen Erlösung.
Aber der neue deutsche Spießbürger kann nicht loslassen. Er ist süchtig nach seiner moralischen Überlegenheit, abhängig von seiner Empörung, gefangen in seinem Kampf gegen Windmühlen. Er braucht die Diskriminierung, um sie bekämpfen zu können. Er braucht die Ungerechtigkeit, um sich als Kämpfer für Gerechtigkeit zu fühlen. Er braucht das Böse, um sich als Guter zu definieren.
In dieser Hinsicht ist er zutiefst reaktionär. Während er vorgibt, eine bessere Zukunft schaffen zu wollen, ist er tatsächlich fixiert auf die Vergangenheit, die er überwinden möchte. Er definiert sich nicht durch das, was er will, sondern durch das, was er ablehnt. Er ist nicht für etwas, sondern gegen alles. Er hat kein positives Programm, nur negative Abgrenzungen.
Aus dieser pessimistischen Anthropologie folgt zwangsläufig ein autoritärer Politikansatz. Wenn die Menschen von Natur aus schlecht sind, müssen sie erzogen werden. Wenn sie von sich aus diskriminieren, müssen sie daran gehindert werden. Wenn sie falsch denken, müssen sie umerzogen werden. Die Demokratie wird zur Pädagogik, der Staat zur Erziehungsanstalt, die Gesellschaft zum Besserungswerk.
Der neue deutsche Spießbürger übernimmt dabei gerne die Rolle des Erziehers. Er weiß, was richtig und falsch ist. Er kennt die Gesetze der Geschichte. Er durchschaut die Mechanismen der Macht. Er ist der Aufgeklärte unter den Unaufgeklärten, der Sehende unter den Blinden.
Diese Selbstüberschätzung ist nicht nur lächerlich, sie ist auch gefährlich. Sie legitimiert jeden Übergriff, rechtfertigt jede Zumutung, entschuldigt jede Grenzüberschreitung. Wer das Gute will, darf alle Mittel einsetzen. Wer für die Wahrheit kämpft, muss keine Rücksicht nehmen. Wer die Geschichte auf seiner Seite weiß, kann sich alles erlauben.
Dabei zeigt gerade die deutsche Geschichte, wohin solche Größenfantasien führen. Jede Ideologie, die den Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt, endet im Terror. Jede Bewegung, die alle Menschen beglücken will, macht sie unglücklich. Jede Partei, die das Paradies auf Erden schaffen möchte, schafft die Hölle.
Noch ist es nicht zu spät. Noch gibt es Widerstand. Noch existieren Bereiche, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Noch leben Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen. Noch herrscht das Recht, auch wenn es gebeugt wird.
Aber die Zeit läuft ab. Mit jeder Generation, die in der woken Ideologie aufwächst, wird der Widerstand schwächer. Mit jedem Jahr, das diese Denkweise die Bildungseinrichtungen beherrscht, werden weniger Menschen immunisiert. Mit jedem Monat, den die Medien diese Sichtweise propagieren, wird sie normaler.
Der Kampf gegen die neue deutsche Spießbürgerlichkeit ist deshalb nicht nur ein politischer, sondern vor allem ein kultureller. Es geht nicht um Programme oder Parteien, sondern um Mentalitäten und Einstellungen. Es geht darum, die Fähigkeit zur Ironie zurückzugewinnen. Den Mut zur Unpopularität zu entwickeln. Die Kraft zur Gelassenheit zu finden.
Es geht darum, die Familie als Schutzraum zu verteidigen. Als Ort, an dem Menschen sie selbst sein können, ohne Rechtfertigung und ohne Begründung. Als Gemeinschaft, die nicht auf Ideologie gegründet ist, sondern auf Liebe. Als Refugium, das der Politik entzogen bleibt, weil es wichtigeres gibt als Politik.
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