Zum Inhalt springen

Ich bin Sisyphos, ich wälze einen Stein

Ich bin Sisyphos

Ich bin Sisyphos. Ich wälze meinen Stein, den ich für wahrhaftig halte, den Berg hinauf. Immer wieder und wieder stemme ich mich gegen den Fels, doch er bleibt unbeeindruckt von meiner unzulänglichen Kraft. Ich mache mich zum Narren in meinen Bemühungen. Ich will den Fels nicht liegen lassen. Nicht frei sein von der selbst aufgebürdeten Aufgabe, denn geschenkte Wahrheiten sind mir zuwider. Es ist meine Aufgabe, maße ich mir an, den Fels den Hang hinaufzurollen, solange bis er den Gipfel erreicht und dort verharrt für ewig. Als Ermahnung für die Gegenwärtigen und die Nachfolgenden auch.

Allein kann mir diese Aufgabe nicht gelingen, ich weiß. Aber aufgeben ist keine Option. Den Fels nach oben zu wuchten, so lautet der Fluch seit Ewigkeiten.

Andere, wie ich, stehen um den Stein. Nein, nicht wie ich, aber auch wie ich. Über Beschaffenheit und Farbe reden sie. Streiten, ob die Form optimal für das Vorhaben oder vielleicht der Berg sich unterordnen ließe dem großen Ziel.

Andere fordern gar ein Gesetz zu sehen, einen Antrag, der das Hinaufrollen überhaupt erst erlaubt. Vom Olymp selbst, der auf eben diesem Berg sich eingerichtet hat, gezeichnet und gesiegelt.
Nicht der Fels und nicht der Berg seien zur Lösung notwendig, sondern das grundlegende Verständnis für Berg und Stein wären unerlässlich. Zu klären sei weiterhin, ob Fels und Berg real seien oder eher als philosophische Metapher wahrzunehmen. Man müsse also zunächst beide in Einklang bringen und dann sich selbst mit beiden. Dann, so ist man sich kurz einig, könne die Aufgabe gelingen.Für das Gemeinwohl, so argumentieren andere, wäre es zwingend erforderlich, sich dem Stein und dem Berg zunächst auf einer meta-mentalen Ebene zu nähern.

Warum überhaupt DER Berg und DER Stein, empört sich jemand lauthals. Wer wisse denn schon, was und wie Berg und Stein sich definieren. Und wer das Recht hat, sich herauszunehmen, in deren Namen zu sprechen. Wer von den Anwesenden sei schon jemals in der Situation gewesen, wie der Stein und der Berg eben. Es sei doch wohl unabdingbar, einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Einen wissenschaftlichen, so die einen. Einen philosophischen eher, die anderen.

Welche Aufgabe ruft jetzt einer, der neu hinzugekommen ist? Worin besteht die Aufgabe? Und wer bestimmt, worin die Aufgabe besteht?Der Stein, so ein anderer, ist ein überholtes Relikt, das es endlich mental zu überwinden gelte. Genau und wenn er denn überhaupt ein Stein ist, so ein anderer. Wer bestimmt denn, was ein Stein und was ein Fels ist?

Eine Stimme mit Akzent weiß zu berichten, dass er noch nie ein Freund von Bergen gewesen sei. Er fühle sich von ihnen eingeengt und somit würde er sie als diskriminierend empfinden. Zumindest darüber solle es doch wohl keine andere Meinung geben, beharrt er energisch.

Die Menschen haben diesen Stein nur verschieden interpretiert, behauptet ein Dritter, es kommt aber darauf an, ihn zu verändern.

Die ersten Experten treten in die Diskussion ein. Sie haben wissenschaftlich, selbstverständlich(!), berechnen können, dass der Feinstaub, welcher während des Hinaufrollens des Steines entstehe, den Nutzen stark reduziere. Sie rieten eindringlich von dem Vorhaben ab. Eine erschreckende Bilanz berichtet die Zeitung später. Statt dessen empfehlen sie weiter, den Stein zur Steinchenproduktion zu nutzen. So, argumentieren sie weiter, hätte wahrhaftig jeder seinen Anteil an dem großen Fels. Zwar zöge dies notwendigerweise eine Steinchensteuer nach sich, aber man werde im Gegenzug, den Erwerb von Steinchenanteilen bezuschussen, um so eine gerechtere Steinchenverteilung zu gewährleisten. (es folgt anhaltender Beifall)

Einer weiß geflissentlich zu berichten, dass der Berg gar nicht natürlichen Ursprungs sei. Erst durch den Blickwinkel des Menschen wäre der Stein als „unten“ zu betrachten und nicht auf einer Ebene mit dem Gipfel. Es wäre also das Verschulden der Menschheit und nicht naturgegeben. 

Solange nicht eindeutig geklärt sei, ob es ein Stein oder ein Fels ist, wiederholt sich jemand, sei jedes Unterfangen ganz klar zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig beklagt er lauthals die Uneinsichtigkeit der Umstehenden in dieser Frage und wirft ihnen extreme Uneinsichtigkeit vor. Das mache schließlich einen Unterschied in der Bewertung der anstehenden Aufgabe.

Welche Aufgabe denn, fragt man erneut zurück. Es muss doch jemand zuständig sein, zu klären, was eine Aufgabe ist, wer darüber entscheidet und wer letztendlich in der Verantwortung dieser Aufgabe stehe, sie zur Ausführung zu bringen. Auch darüber habe man noch nicht gesprochen. Ja genau, stimmen etliche zu, wer übernimmt hier eigentlich Verantwortung? Wer ist verantwortlich für die Verantwortung? 

Während dessen beginnen andere am Fels zu rütteln und zu schieben. Unmerklich bewegt sich der Stein. Unmerklich, aber er bewegt sich. Das löst eine Welle des Entzückens und Erleichterung aus unter den Umstehenden. Quer durch die Menge ruft man „Je suis Stein!“ und bieten Button, T-Shirts und Schlüsselanhänger mit den passenden Losungen an. 

Endlich herrscht Einigkeit unter den Anwesenden:Wir müssen zunächst den Stein neu definieren. Der Fels muss vielseitiger sein und für alle erträglich und akzeptabel. Niemand dürfe sich von diesem Stein zurückgelassen fühlen. Vielleicht wäre er als Würfel eher zu ertragen, oder als Pyramide. Man müsse ihn ja nicht umgestalten, es genüge doch, die Bezeichnung den Anforderungen der Zeit anzupassen.Das machte ihn dann erträglicher in seiner Form für alle. 

Keine Pyramide, ruft jemand, keine Pyramide. Wir alle wissen, wohin das führen würde. Stumme Ratlosigkeit.

Bis einer ausruft, man solle den Stein nicht eher als Ermahnung verstehen, für alle, die noch immer glaubten, es gäbe diesen Stein in Wahrheit. 

Ob es denn überhaupt Geologen gäbe unter den Steinerollern, wird lauthals gefragt und wo denn wohl geschrieben stünde, dass es überhaupt dieser Stein wäre, der wahrhaftig sei und nicht ein anderer. Einer, zum Beispiel, der auf der anderen Seite des Berges liege.

Die erlösende Frage wurde gestellt und die Lösung der Aufgabe wird auf morgen vertagt.

Ich bin Sisyphos. Ich bin ein Narr.

Schreiben Sie einen Kommentar